Sexueller Missbrauch geht uns alle an. Referat des Mettmenstetter Theologen Roy Gerber.

«... dann suchen Sie den Kontakt mit uns.» Diesen Satz wiederholte Roy Gerber vergangene Woche in der Kirche der Chrischona Affoltern immer wieder. Er sensibilisiert die breite Öffentlichkeit für ein Tabu-Thema und bietet zusammen mit seinem Team konkrete Hilfe an. (Bericht im Affolter Anzeiger, 2.10.2020, von Regula Zellweger).


Roy Gerber, der in den USA zuerst als erfolgreicher Geschäftsmann unterwegs war und dort schliesslich Theologie studierte, kam mit seinem Hund «Ziba», den er als Therapiehund ausbildete, in Kontakt mit Kindern als Opfern von sexuellem Missbrauch. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz gründete er die Hilfsorganisation «Be Unlimited» und die «Kummer Nummer» 0800 66 99 11. Unter dem Label «Be Unlimited» arbeiten verschiedene Care-Teams und Fachspezialisten. Im Angebot sind auch verschiedene Kurse. Zwei Therapiehunde gehören zum Team.

Aufruf, aktiv zu werden

Roy Gerber gliederte seinen über zweistündigen Vortrag in verschiedene Sequenzen, dazwischen zeigte er beeindruckende Kurzvideos mit Tanzszenen zum Thema «Opfer von sexuellem Missbrauch». Unterstützt mit einer Power-Point-Präsentation zeigte er den rund 60 Besuchern auf, dass sexueller Missbrauch in der Schweiz viel häufiger vorkommt, als man allgemein annimmt. Er räumte mit verschiedenen Mythen auf und vermittelte, wie die Situation ist: 

«Jedes vierte Mädchen und jeder siebte Junge wird in seiner Jugend mindestens einmal sexuell missbraucht. Drei von vier Opfern kennen den Täter oder die Täterin - meist sogar sehr gut. Der meiste sexuelle Missbrauch geschieht in einer längeren Beziehung zwischen Opfer und Täter.» 


Dabei werden Ängste, Scham- und Schuldgefühle der Opfer bewusst provoziert und ausgenützt. Bei den Strafanzeigen sollen lediglich zwei Prozent Falschanzeigen sein. Anzeigen werden oft mit zeitlicher Verzögerung erstattet. Die Schwelle, um eine Anzeige zu machen, ist hoch, denn Missbrauch macht sprachlos, Opfer schämen sich und übernehmen einen Anteil der Schuld - völlig zu Unrecht. Zudem ist Missbrauch noch immer ein Delikt, bei dem die Täter fast straffrei ausgehen. In Amerika sei dies anders, führte Roy Gerber aus. Dort würden in den Gefängnissen Vergewaltiger von den Mitinsassen «bestraft». 

Porno-Industrie

Immer mehr Jugendliche begehen sexuellen Missbrauch. Diese Tatsache führt Roy Gerber darauf zurück, 

dass pornografische Produkte beispielsweise auf dem Internet omnipräsent sind. «Kinder- und Jugendpornografie ist weltweit eine der grössten Einnahmequellen. Vor Öl, Waffen und Drogen. Allein für Kinderpornografie gibt es rund 3 000 000 000 Seiten mit 3 000 000 000 Franken Umsatz.» Generell gilt: Es gibt keine gleichberechtigte Beziehung und einvernehmlichen Sex zwischen einem Erwachsenen und einem Kind. 


Der «Bedarf» nach Konsum von Porno ist enorm: 70 Prozent aller 18- bis 34-jährigen Männer schauen mindestens ein Mal pro Woche Pornos. Eine von drei Frauen «konsumiert» mindestens einmal pro Woche Pornos. 

Folgen für die Opfer

Man legt den Fokus zu stark auf die Täter. Die Opfer verdienen unbedingt Beachtung, Zuwendung, konkrete Hilfe. Roy Gerber präsentierte Zahlen:

«55 Prozent der bipolaren Störungen haben sexuellen Missbrauch als Hintergrund. Über 80 Prozent der Borderline-Persönlichkeitsstörungen basieren auf traumatisierenden sexuellen Erlebnissen. Über 95 Prozent von Essstörungen haben sexuellen Missbrauch als Hintergrund (bei Magersucht nicht ganz so hoch).»


Der Referent erklärte die vier Phasen des Entstehens posttraumatischer Störungen: 1. Eigentliche traumatische Erfahrung, 2. Reaktion der nächsten Angehörigen, 3. Reaktion des weiteren Umfeldes, 4. Reaktion von Fachleuten. Damit zeigte er auf, wie wichtig es ist, dass Aussagen von Opfern ernst genom-men werden, dass Opfer nicht gezwungen werden, mehrmals den Tathergang zu beschreiben und dass mit keinerlei verbalen oder nonverbalen Reaktion Schuldgefühle am Hergang der Tat vermittelt werden sollen. Roy Gerber plädierte für nachhaltige Strafen für Täter, um potenzielle Opfer zu schützen. Opferinteressen gehen vor Täterinteressen. 

Störung der Sexualpräferenz

Laut ICD-10-GM, Version 2020, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme wird Pädophilie als Störung der Sexualpräferenz definiert. Roy Gerber interpretiert: «Pädophilie ist laut WHO keine Krankheit, also kann man sie auch nicht heilen. Es ist eine lebenslänglich andauernde Neigung.» Prompt kam aus dem Publikum die Frage: «Wenn diese Störung nicht heilbar ist, was kann ein Betroffener tun?» 

Roy Gerber verwies auf Institutionen, die auf die Prävention von sexuellem Missbrauch spezialisiert sind und wo sich mögliche Täter informieren können: «Forio», www.keinmissbrauch.ch und «Kein Täter werden», www.kein-taeter-werden.de. 


Zum Schluss präsentierte Roy Gerber Zitate: «Für Wunder muss man beten, für Veränderungen muss man arbeiten. Thomas von Aquin», «Wer zuschaut und schweigt, wird zu einem Mittäter, Arthur Rutishauser» und «Schweigen im Angesicht des Bösen ist selbst böse. Nicht zu sprechen ist sprechen. Nicht zu handeln ist handeln, Dietrich Bonhoeffer». 

Roy Gerber betonte: «Eine sexuell missbrauchte Person ist nie, nie, nie selber schuld!» Und bietet sich und sein Team nochmals als niederschwellige Anlaufstelle an. 

Informationen

www.beunlimited.org • Telefon +41 41 755 00 51 • www.kummernummer.org • 0800 66 99 11.